Review: Lost

Flugzeugabsturz

Der Unfall, mit dem Alles began

Nach vielen arbeitsreichen Wochen habe ich es endlich geschafft, mich mal meinem Videorekorder zu widmen und mir die letzte Staffel Lost mehr oder weniger „am Stück“ anzuschauen.

Nun, jetzt wo man den Blick zurückschweifen lassen kann, und die vollen sechs Jahren überblickt, kann man auch anderen Serienjunkies empfehlen, in sechs DVD-Sets zu investieren?

Für die wenigen, die gegen massive PR-Kampagnen immun sind, möchte ich noch ein paar einleitende Worte zur Handlung verlieren. Lost beginnt als die Geschichte eines Flugzeugabsturzes. Die Überlebenden des Fluges „Oceanic 815“ stranden an einer mysteriösen Insel. Neben dem bloßen Überleben, sehen sich die Passagiere mit einem schlechtgelaunten (und zunächst im Verborgenen lauernden) Inselmonster konfrontiert, finden eine sichtlich verrückt gewordene Französin, die schon seit Jahren auf der Insel lebt, und schließlich eine Gruppe feindseeliger Ureinwohner, getauft als die „Anderen“. Neben der Inselhandlung findet jeweils die Hälfte einer Folge im Vorleben eines der Passagiere statt. In diesen Flashbacks erfährt der Zuschauer, dass sich die Überlebenden schon vor dem gemeinsamen Flug mehrfach über den Weg gelaufen sind, meist ohne es zu merken. Es scheint, als hätten höhere Mächte ihre Hand im Spiel und dafür gesorgt, dass genau diese Gruppe von Menschen auf die Insel kommen mussten.

Der Tempel

Rund um dem Temple werden noch gegen Ende der Serie eine Reihe neuer Mysterien gesponnen.

Immer mehr und unwahrscheinlichere Ereignisse brechen über die Gruppe herein. Für jedes gelöste Mysterium erscheinen zwei neue. Die Serie entwickelt ihre eigenen Motive und Mythen, wie die überall präsente Zahlenreihe 4, 8, 15, 16, 23, 42, verschiedene multinationale Großkonzerne mit Interesse an den Geheimnissen der Insel, einen eigenen Ursprungsmythos (eine Art „Abel und Kain“ à la Shakespeare) und zahllose Referenzen zu Religion, Philosophie und Popkultur. Ganz so, wie es sich für ein postmodernes Märchen gehört. Häufig werden die Erwartungen der Zuschauer bewusst konterkariert, besonders durch die Flashbacks wird ständig die Sicht auf die Überlebenden verändert.

Weltuntergangsuhr

Zeit für den Weltuntergang

In späteren Staffeln wird das Konzept der Flashbacks völlig auf den Kopf gestellt und auf halber Strecke scheinbar das Ende der Serie vorweggenommen. Auch vor Zeitreisen schrecken die Autoren nicht zurück, allerdings ohne genretypische Mustern wie Großvater- oder Prädispositionsparadoxa zu folgen. Gelegentlich gar steht nicht weniger als das Schicksal der ganzen Welt auf dem Spiel. Leider verlieren diese drohenden Katastrophen viel von ihrer Dringlichkeit, weil die vielschichtige Handlung auf verschiedenen Zeitsträngen oft schon einen mehr oder glimpflichen Ausgang vorweg nimmt.

Flashback

In Flashbacks erfährt der Zuschauer, dass sich viele der Charaktere schon im Leben vor dem Absturz begegnet sind.

Nun, lohnt es, die moderne Robinson-Crusoe-Saga noch einmal von Vorne bis Hinten zu erleben? Leider ist Lost nicht für das überragende Stück Unterhaltungsfernsehen, zu dem es allenthalben hochstilisiert wird. In den ersten Staffeln verliert sich die Serie in die zunächst zu Recht hoch gelobten Charakterstudien, besonders in den Flashback-Sequenzen. Nach der ersten Staffel jedoch hat die Serie in dieser Hintergrundhandlung nicht mehr viel zu erzählen und die Charaktere durchleben immer wieder das ihnen eigene Motiv. Sei es die Ehekrise, die Drogensucht, den Vaterkomplex, die Flucht, das Leben als Alleinerziehender – nach der zweiten Wiederholung hat man es eigentlich verinnerlicht und möchte nicht jede Woche aufs Neue die Hälfte der Folge gezwungen sein, sich anzuschauen, wie die Charaktere die immer gleichen Fehler begehen.

Insel

Die seltsame Insel hält schier endlos viele Überraschungen bereit.

An diesem Punkt hören die wirklich gut geschriebenen und gespielten Charakterstudien auf, ihre Faszination zu verströmen, weil die Inselhandlung in der Zwischenzeit völlig stillzustehen scheint. Die ersten drei Staffeln kann man eigentlich in einem TV-Zweiteiler zusammenfassen, ohne Wesentliches zu versäumen (was ja auch in den sogenannten „Recap-Specials“ erfolgreich vorexerziert wurde. Später wird es etwas besser. Die letzten drei Staffeln entwickeln ein besseres Erzählmoment und balancieren Charaktermomente und die Rahmenhandlung befriedigender. Ausgerechnet die letzte Staffel fällt leider wieder ab. All das fiele aufgrund der hohen Qualität der Darbietung nicht weiter auf, wenn die Serie nicht letztendlich viele Erwartungen völlig enttäuschte.

Leuchtturm

Viele Teile der Mythologie wie der Leuchtturm wurden offenbar nur eingeführt, um Verwirrung unter den Zuschauern zu stiften.

Das wirklich entscheidende Problem ist, dass die Serie ihre Hauptfaszination aus den Mysterien rund um die Insel bezieht und ihre Zuschauer mit dem Versprechen geködert hat, hierfür unerhört originelle Erklärungen liefern zu können. Während ihres sechsjährigen Laufes wurden immer wieder kleine Rätsel gelüftet, oft mit drastischen Wendungen und positiven „Aha“-Erlebnissen verknüpft. Der Moment, in dem Bruce Willis Charakter Malcolm in „The Sixth Sense“ realisiert, dass er tot ist, ist beispielhaft für das, womit die Serie ihr Publikum jahrelang gefesselt hat.

Leider hat sich das Team um J.J. Abrams und Damon Lindelof mit dem immer weiter ausgebauten Mythos aus sechs Staffeln völlig übernommen und kann am Ende keine befriedigenden (selbst nach metaphysischen Maßstäben) Auflösungen präsentieren. Obwohl in der letzten Staffel mantra-artig „All of this mattered.“ wiederholt wird, bekommt man als Zuschauer das Gefühl, man sei mit unkreativen Banalitäten abgespeist worden. Um dieser Enttäuschung vorzubeugen, haben die Produzenten in ihrer Begleit-PR immer wieder betont, „Lost“ sei eine Serie über Charaktere. Nur das kann ja wohl kaum als Entschuldigung für eine kreative Bankrotterklärung herhalten.

Spiel zwischen Gut und Böse

Gegen Ende bricht Lost seine komplexe Mythologie auf ein uninspiriertes Spiel zwischen Gut und Böse, Weiß und Schwarz, herunter

Es geht gar nicht darum, alle Details um den Inselmythos zu lüften, schließlich wird am Ende von „The Sixth Sense“ auch nicht aufgeschlüsselt, warum Cole tote Menschen sehen kann. Dennoch ist das schockierende Ende eine befriedigende Auflösung für das Publikum, das dadurch motiviert ist, sich den Film ein zweites Mal aus einem veränderten Blickwinkel auf das Geschehen anzusehen. Diese Erwartung hatte auch Lost gegenüber seinen Zuschauern in 120 Folgen immer weiter aufgebaut. Stattdessen schließt sich am Ende kein Kreis zwischen den verschiedenen Ebenen der Handlung, der Mythos wird auf ein einfaches Gut/Böse-Kindchenschema heruntergebrochen und weite Teile der Handlung sind im Rückblick grob widersprüchlich.

Noch schlimmer wiegt, dass im Nachklapp die Hälfte der sechsten Staffel für völlig irrelevant erklärt wird. Wenn ich als Zuschauer 6-7 Stunden Lebenszeit investiere, möchte ich nicht in den letzten zehn Minuten erfahren, dass es mehr oder weniger belanglos war.

Das Rad

Ausgerechnet Schlüsselmomente erscheinen im Nachhinein als willkürliche Mittel, um die Handlung aus aussichtlosen Situationen zu manövrieren.

Was bleibt, ist ein hochkomplexer, vielschichtiger Roman in 121 Kapiteln, der ohne befriedigendes Ende bleibt. Nach wie vor kann man sich an den üppigen Charakterzeichnung erfreuen und versuchen, die scheinbar von jeder inneren Logik entblößten übernatürlichen Ereignissen unbeeindruckt an sich vorbeirauschen zu lassen.

J.J.Abrams hat einmal erzählt, er hätte eine verschlossene Wundertüte mit Zauberartikeln auf einem Regal stehen, die er nie öffnen werde, damit das Geheimnis ihn weiter inspiriere. Und dieses Gefühl wolle er auch im Zuschauer erwecken. Lost hingegen wirkt wie ein Zaubertrick ohne Pointe, ohne Motivation, ohne Geheimnis, dass man ergründen möchte.

Hinweis: Alle Bilder in diesem Artikel (c) abc Studios, verwendet entsprechend fair-use.

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